Peter Wawerzinek - Rabenliebe
- Название:Rabenliebe
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- Издательство:Galiani Verlag
- Год:2010
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Peter Wawerzinek - Rabenliebe краткое содержание
Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.
Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.
Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?
Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?
Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.
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ICH WAR EIN IDIOT, denke ich, als ich mich entschlossen habe, zur Mutter zu fahren. Ich war ein Idiot, als ich mich habe nicht adoptieren lassen wollen. Ich war ein Idiot, als ich den Schlaumeiern zuzuhören begann, die mir einzureden versuchten, ich wäre beim Ringen ums menschliche Seelengleichgewicht auf der Verliererstrecke, wenn ich nicht zur verlorenen Mutter zurückfinde. Ich hätte durch den Muttermangel bereits sichtbaren Schaden genommen, müsse wettmachen, die Mutter aufspüren, den tiefen Graben zwischen uns überbrücken, unbedingt auf die Mutter zugehen, sie in die Arme schließen, dass sie rahig sterben könne. Ich war ein Idiot, als ich mich auf den Pressesprecher des Ministers einließ, seine Frau habe machen lassen und mir dann die Handynummer der Mutter gespeichert habe, die Mutter angerufen, mich ihr zugewandt. Und bin nach Eberbach gefahren. Und habe mir den Wagen beim Freund leihen müssen. Der Mutterdrang ist mit dem Besuch bei der Mutter ausgestanden, als unnötige Peinlichkeit wie eine Jacke abgelegt, die ich mir habe überziehen lassen. Alles mit der Begegnung ferner denn je zuvor. Es gibt so keine Bande zu dieser Frau, die ausgestoßen bleibt, kein Anrecht anzumelden hat auf ein gemeinschaftliches Unser, mich abstößt. Wir sind durch keinerlei Mutterblut verbunden. Humbug ist das Märchen von der starken Wirkung der genetischen Bindung. Umso intensiver die Abkehr voneinander, umso rettender das mutterlose Danach, das mit dem mutterlosen Davor eingeleitet worden ist und zu nichts Gutem geführt hat. Ich bleibe das Kind ohne Heim. Die Mutter ist ein Gespinst, eine Farce, ein Trugbild, das ich nicht länger mehr durch mein Leben tragen will. Die fernste Ferne ist erreicht. Es gibt keine Nähe zu vermelden. Ich sitze am Tisch. Ich esse den Kuchen nicht. Ich schaue die Mutter an und wende mich ab von ihr. Im Namen der Schwester, im Namen unserer gemeinsamen Not, wir bleiben mutterlos, der Schlussstrich ist zu ziehen, die Mutter aus dem Spielplan zu nehmen und als Theaterstück abzusetzen. Zum Jagen geht man in den Wald, zum Fischen auf den See hinaus.
Die Mutter sagt nichts. Alles spricht gegen sie. Sie sitzt vor mir, und es gibt sie nicht. Das abschließende Gebet laute: Mutter, ich sterbe nicht in deinen Händen. Der Vatersamen war ein sterbender. Er schoss an der Mutter vorbei und liegt begraben. Mit mir starb die Schwester im gleichen Todestrakt, deinem Bauch. Doch siehe. Dein Sohn ist gekommen. Und lebe mutterlos. Und bleibe die ewige Waise. Du aber bist nicht meines Blutes. Und mach es dir jeden Tag bewusst. Du bist nur vom Namen her eine Mutter. Die Getöteten bleiben. Und nur die Frevlerin vergeht im Todesgarten, aus dem heraus keine Pforte führt. Der Sohn wird das Schwert nicht ziehen, die Hecke zu zerschlagen, dich aus dem Dornenmeer befreien, sondern dein Zergehen begleiten. Todespollen erfüllen die Luft.
Rache, Rache süße du, Aug um Aug, Zahn für Zahn singe ich, umtanze das Lager der zurückeroberten Kindheit.
MÜTTERCHEN, KOMM, tanz mit mir, beide Hände reich ich dir, einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer, mit den Händchen klipp, klapp, klapp, mit den Füßchen tripp, tripp, tripp, mit den Köpfchen nick, nick, nick, mit den Fingerchen, tick, tick, tick, ei, das hast du gut gemacht, ei, das hätt ich nicht gedacht, noch einmal das schöne Spiel, weil es mir so gut gefiel, einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Ich spüre keine Mutter in mir auflodern, bin ihr nicht einmal im aufkommenden Wutmoment anverwandt. Selbst wenn ich gleich um mich schlage, wenn ich jedes Stück der Wohneinrichtung zerbreche und alles in der Wohnung Befindliche, den Stuhl, den Tisch, die Wanduhr, mit ihr die Zeit und den Raum restlos ausradiere, die Mutter töte, die ich in mir bereits emsig tilge, sind die bösartigen Emotionen nur der geringe Teil meines Gefühlslebens. Ibo ruft die Geistermächte an. Kwo, unu, kwosi okiro. Kommt, ihr alle, kommt herab auf unsere Feinde. Verdammnis dieser Frau. Die haben mir die Kinder genommen, lügt sie. Die haben mich nicht rangelassen an meine Kinder. Was hätte ich denn tun sollen, höre ich sie jammern. Mehr an Erklärungsnotstand ringt sich die Mutternull zum Ende der drei zähen Küchentischbegegnungsstunden an Einfühlung nicht ab. Mehr an Klärung und Erbärmlichkeit springt nicht heraus. In Gedanken füttere ich die Mutter mit Kartoffelbrei aus fein gehackter Minze, Schnittlauch, Brennesselspitzen, in heißer Milch vorgekocht. Kartoffelbrei mit Apfel, dazu Fisch auf dem Grill gebraten, mit Rosmarin gewürzt, dazu Spätburgunder gegossen. Erzähle ihr vom Albatros, diesem Vogel, der gezwungen ist, sein Leben einsam über dem Meer im Fluge zu verbringen, dessen Beine unterentwickelt sind, keine Muskulatur vorhanden um zu Landen. So reist man durch die Welt. Oft muss man fort, obs regnet oder schneit und friert noch so hart. Hab oftmals keine ganzen Schuh und auch kein Stückchen Brot dazu, auch keinen Kreuzer Geld. So reist man durch die Welt. Der Vater sprach zum Sohn, reise fort, und geht dirs schlecht, so denk an mich, dass es dir besser gehen wird. Und sollt uns nun der Fall geschehn, dass wir uns hier nicht wiedersehn, sehn wir uns am Weltgericht, leb wohl, vergiss die Eltern nicht. Im Zenit meiner Rachegelüste überlasse ich die Mutter bei lebendigem Leib einem hundertarmigen Meeresriesen, der sie aussaugt, als leere Hülle hinterlässt und ausspucken wird, und dann denn Möwen überlässt. Rache für alles, was die Xanthippe mir und meiner kleinen Schwester angetan hat. Es ist Gedankenfolter, die mich zuerst quält. Ich tauge nicht zur Quälerei, die mir die Mutterlosigkeit ersetzt. Mich führt die Fantasie in andere Bereiche. Es ist das Geschäft der Akrobaten und Seiltänzer, auf den Schwingen der Fantasie Höhe zu erreichen. Tiefe Einsamkeit ist der Zustand, den die Mutter an ihrem Sohn verbrochen hat. Sie lebt und stirbt mit dieser Last. Das ist die Strafe. Mehr an Folter und Schmerz ist ihr nicht zuzufügen. Wir sitzen uns gegenüber. Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten, kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei, die Gedanken sind frei, ich denke, was ich will und was mich erquicket, und das in der Still und wenn es sich schicket, mein Wunsch und Begehren kann niemand mir wehren, wer weiß, was es sei, die Gedanken sind frei. Die Mutter kann husten und keuchen, kann würgen und sich erbrechen. Nebengeräusche stören mich nicht, wie mich Seufzen an der Trauer nicht stört, nicht Hackgeräusche am Holzklotz, Schreie beim Sex. Der Hass und die Liebe kennen die sie begleitende Geräusche. Seufzen führt zum Stöhnen. Stöhnen zum Krächzen. Krächzen bereitet Schluchzen und Weinen vor. Weinen folgt Flennen. Greinen ist Wimmern heißt Winseln, Flehen, Verlangen, Wünschen, Bitten, Betteln. Das Flirren wird Qual. Qual erzeugt Druck, der zum Heulen führt. Jaulen, Maunzen, Schnurren. Röcheln, Hecheln und Keuchen. Japsen, Prusten, Pusten und Fauchen. Murren, Brummein, Murmeln, Maulen und Gurgeln, das in Röcheln umschlägt, Knurren wird. Brummen und Surren, das zum Bellen, Belfern, Kläffen ausartet, in haltloses Kichern überwechselt, in Schnauben und Raunen bis sich das Rattern der Seele einstellt, das in Schwirren mündet, Wallen und Schäumen, Gischten, Toben, Bersten und Herzrasen verursacht. Der Ring legt sich zum Kreis. Der Kreis umkreist den Ring. Wenn der Kreis den Kreis umringt und der Ring den Ring umkreist und jedes Geräusch geräuschlos wird, lebt der einsame Mensch in seiner Einsamkeit fort. Ich bin mit der Mutter in der Küche eingesperrt. Wir sitzen auf lehnenlosen Schemeln und schälen Kartoffeln. Ich bin kein Folterer. Ich fühle mich nicht als Folterer. Ich gewähre der Mutter ihre halbe Stunde Rundgang. Ich führe die Mutter wieder zur Bettstatt, wo ich sie anschnalle, dass sie mir nicht entwischen kann, wenn ich mit ihr rede. Den Mund öffne ich ihr mit einer Vorrichtung der Zahnmedizin. Ich füttere sie mit Kartoffelbrei, löffelweise schiebe ich ihn heiß in die Mutter hinein. Die Augen der Mutter weiten sich. Ich bin dein Sohn, höre ich mich sagen, ich meine es gut mit dir. Und drücke den nächsten Löffel in den Heißbreimund. Sie kann den Brei nicht ausspucken. Sie kommt mit dem Schlucken nicht nach. Und will den Mund leeren. Ich will das aber nicht. Sie ist zu sättigen, während wir über die Zeiten reden, die ich ohne Mutter gewesen bin, von der Wiege an, in drei verschiedenen Kinderheimen, dem Kinderheimkindergarten, dem Vorschulkinderheim, dem Schulzeitkinderheim, von Kindesbeinen an bis zu den ersten Zeichen aufkommender Pubertät.
Das Bild im Schlafzimmer. Der Mann in Polizeiuniform. Sein Name ist Diethard oder Reinhold. Ich bin mir nicht sicher. Ich will es nicht wissen. Ich frage nicht nach dem Namen. Ich verlasse die Küche. Ich habe mit meinem Eintritt die Küche nie betreten. Ich bin abwesend. Ich sitze aufrecht am Tisch. Meine Blicke auf die Mutter sind über die Schulter hin getätigte letzte Blick auf eine Frau, die ich mit Blicken bewerfen, mit Blicken steinigen, zu Tode blicken kann, so wie sie da auf ihrem Küchenstuhl klemmt, hingespuckt, mit einem Buckel auf dem Rücken, gegen die Küchenwand gedrückt, ist sie kein menschliches Wesen, ist eher Teil der Küchenwand, bleich und formlos. Und kann die Last nicht ablegen. Und wird diesen Schuldbuckel nicht los, der aus ihr hervor gewachsen ist, der zweimal schwangere, zweimal entleerte Mutterbauch. Und schafft nicht, Rabe zu sein, sich das Herz zu zerhacken, mit ihren über siebzig Jahren. Endlich wahrhaben wollen. Endlich Missstand eingestehen, sich für unfähig erklären.
Ich frage bei der Mutter nicht nach. Ich unterrichte sie nicht mit Fakten aus Akten. Was die Mutter sich einredet, nicht ein wahres Körnchen findet sich dran. Erstunken und erlogen ist ihre Beichte. Bis in den Tod hinein wird sie sich belügen, mit Erfindungen befriedigen, weil sie alles verdrängt hat, Lüge ist, was sie erinnert. Die Mutter muss vor sich in Schutz genommen werden, vor ihrer Verdrängung, die dafür verantwortlich zeichnet, dass sie kein Gram befällt, kein Unrechtsgefühl ergreift und sie sich vor Schuld und Scham die Augen auskratzt, die Adern zerbeißt, das Herz abdrückt, Gift zu sich nimmt, sich fortnimmt aus dieser Welt und unbeweint ins Vergessen schleudert. Wie Spinnengewebe, alt und verstaubt, herrenlos und unbeachtet wird ihr das verlogene Leben zum Leichentuch. Ein Gespinst, das man mit einem Atemzug wegpusten kann.
Cobwebs from an empty Skull. Spinnweben aus einem leeren Schädel.
Ambrose Gwinett Bierce
OHNE ANZULÄUTEN betritt ein dunkelhaariger Junge um die dreizehn, vierzehn Jahre die Küche, von mir als Besucher nicht weiter überrascht, hebt ruckzuck die Deckel der auf dem Herd stehenden Töpfe an, blickt in sie hinein, wechselt augenblicklich sein Antlitz vom Ernst nach der Schule in ein freudiges Strahlegesicht über, ruft Bohnen und Kartoffelbrei wau, nimmt sich eine Bulette aus der Pfanne, steckt sie ganz in den Mund, klopft der Mutter die Schulter, lobt ihr Tagesangebot mit Kochen kann die Oma wie keine zweite. Nimmt sich einen Teller aus dem Schrank über dem Herd. Füllt sich eine Mahlzeit auf. Isst im Stehen. Schaut mich an, während ich mich erhebe, ihn förmlich begrüße, meinen Namen sage und nach dem seinen frage, mich ihm als Onkel vorstelle, ihn Neffe heiße. Da ward geboren ein Königssohn, und bestieg vom Vater den Thron, und war dann König von Ägypten, aber leider auch zu sehr korrupt. Da kam zu seinem Pech ein oberster Leutnant mit Namen Gamal Abd el Nasser an den Hof; und stieß den König vom Thron und setzte Faruks Sohn, erst sechs Monate alt, an dessen Stelle, ließ das Baby Kinderkönig von Ägypten sein, mehr als ein Jahr, fegte dann das heilige Königsamt hinweg und machte Ägypten zur Republik. Und indem ich mich dem Neffen als Onkel vorgestellt habe, zückt der sein mobiles Telefon, benachrichtigt seine Mutter, die ich als meine Schwester Nummer zwei im Kopf registriere, dass da ein fremder Mann bei der Oma in der Küche sitzt, der behauptet ein Onkel zu sein, und der große Bruder von allen ist, wenn ich es dir doch sage, ja bei der Oma hier am Küchentisch, das soll die Angerufene ihm ruhig glauben und könne sie von der Oma bestätigt kriegen, um irre zu finden und für Grund genug zu erachten, wärs an der Zeit, alles stehen und liegen zu lassen und herüberzukommen, den Bruderonkel zu begrüßen. Ich muss übers Mobile den Sachverhalt bestätigen. Wenn dem so ist, werde Schwester Nummer zwei rasch ihren, meinen, unseren Bruder anrufen, den ich Bruder Nummer zwei nenne. Der schwinge sich sofort aufs Fahrrad, sagt sie und wohne noch näher dran als sie, ohne Rad brauchte der zwei Minuten, alle Geschwister wohnen um die Ecke, als kämen sie nicht von der Mutter los. Und wenig später schon ist er dann tatsächlich auch da, stürmt mit einem nebensächlichen Tagmutter auf mich zu, herzt mich kurz und kräftig, presst und begrüßt mich rege, benimmt sich mir gegenüber, als wäre ich von einer langen Irrfahrt auf der hohen See endlich heil zurück in den Heimathafen eingelaufen. Steht breitbeinig vor mir, Bruder Nummer zwei. Schaut mich von Kopf bis Fuß an wie bei der Musterung. Den großen Bruder. Setzt sich beinahe auf den Pflaumenkuchen. Rückt den Stuhl vom Tisch weg, biegt sich mir mit dem Oberkörper entgegen, schaut mich an, fragt mich aus, den Oberkörper in Schwebe über die Schenkel gebeugt, in Habachtstellung unter Hochspannung. Hört mich an. Hört mir zu. Saugt meine Worte mit Aug und Ohr ein. Schüttelt den Kopf. Sieht die Mutter kopfschüttelnd an. Sagt, dass er nicht glauben könne, was er zu hören bekommt, nicht fassen wolle. Steht einszweimal auf. Geht in der Küche herum. Steht hinter mir. Muss mich rechts und links bei den Oberarmen fassen. Ist so sichtlich froh über mein Erscheinen. Der kleinere Bruder, ich, der zwei Jahrzehnte nach mir geborene Bruder Nummer zwei einen Kopf größer als der große Bruder von Wuchs, steht vor mir, bittet mich noch einmal hoch, muss mich wieder drücken, ansehen, drücken. Dann sitzt er nur da, schaut mich an, ist zu Tränen gerührt und hat noch auf dem Rad, während er herfuhr, Bruder Nummer eins Bescheid gegeben, den ich vom Kaufhaus her kenne. Wo der nur bleibt, müsste längst schon da sein, wohne obendrüber im gleichen Hausaufgang. Eine Tante fällt dem Königsjungen ein, wählt deren Nummer, sagt erwartungsvoll, er könne sich einen Euro dabei verdienen. Informiert Schwester Nummer drei, wettet mit ihr, dass der große Bruder hier ist, den niemand je kannte noch sonst wer zuvor gesehen hat. Und reibt sich die Hände und weiß, dass er die Arme ganz aus dem Häuschen gebracht hat, mit diesem Telefonat, die sich nun im Kreis dreht, nicht hinten und vorne und nicht weiß, wie und was zuerst nur tun. Wohnt ein Haus weiter, von hier aus durchs Fenster zu sehen, mit einem kräftigen Hieb hinüberzuspucken. Ein Mops kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. Da nahm der Koch die Kelle und wenig später ist dann Schwester Nummer zwei zu umarmen, die Mutter vom Neffen. Von der Sonne verwöhnt. Rehbraune Haut wie gerade aus dem Urlaub gekommen. Strahlt über beide Backen, zeigt Freude über das ganze Gesicht. Da kamen viele Möpse. Tür auf Tür zu stößt die Schwester Nummer drei hinzu. Schlank machend in Schwarz gekleidet. Das doppelte an Körpergewicht wie die verhärmte, ausgemergelte Mutter. Hochrot im Gesicht. Gibt mir nur scheu ihre Hand. Holt einen Stuhl aus dem Wohnzimmer. Muss sich erst einmal setzen und Frischluft wedeln. So eine Aufregung am frühen Mittag, sagt sie und dann weiter nichts im gesamten Verlauf. Kann nur Tonloses in die Runde staunen. Muss ununterbrochen den Blick mit dem meinen verschweißen. Zu guter Letzt kommt der Kaufhallenkassenbruder, den ich als Bruder Nummer eins im Register führe, weil er der erste Bruder war, dem ich begegnet bin. Ein dünner Schlacks. Mutter, Sohn, Schwester Nummer zwei, Schwester Nummer drei, Bruder Nummer eins, Bruder Nummer zwei und ein Neffe, sieben auf einem Streich, notiere ich, sieben Verwandte in der kleinen Küche, um den kleinen Tisch herum. Der Pflaumenkuchen bekommt allen wohl und ist bis auf ein Eckchen weggeputzt. Die maschinell hergestellte Herrenkuchenrolle wird unangerührt neben den Abwasch verbannt. Und irgendwann kommt da ein Kumpel den Neffen zum Basketball holen, der leider nicht bleiben kann, sich herzlich verabschiedet, die letzte Bulette im Weggehen mit dem Kumpel teilend. Ist ein guter Basketballspieler, sagt die stolze Mutter und wird mit einem lauten: Bin der Beste durch die sich schließende Tür korrigiert. Ich habe längst das mitgeführte Notizbuch aufgeschlagen vor mir liegen. No matter what road I travel I'm going home, steht auf die Innenseite geschrieben und ins Deutsche übersetzt darunter: Ganz gleich, welchen Weg ich nehme: Ich gehe nach Hause. Shinso. Die Gespräche gehen hin und her, der Gesprächspegel klettert munter rauf und runter. Ich schreibe, einem Beamten gleich. Lauter Namen, Hausnummern, Geburtstage, Adressen, Merkmale, Eigenschaften, Hobbys und Vorlieben. Bruder Nummer eins bis Bruder Nummer vier. Schwester Nummer zwei bis Schwester Nummer vier. Die meisten Geschwister sind am Ort geblieben. Schwester Nummer vier hat sich was getraut und ist abgehauen, weggezogen. Nach Frankreich, Heidelberg, Saarbrücken. Hat dort eine kleine Diskothek. Ein Bruder hat sich ein Fertighaus gebaut. Maria heißt eine Tochter. Wird ziemlich dickköpfig, das Kind, will dies nicht und das nicht. О weh. Und Bruder Nummer eins zeigt seinen Körper, die Tätowierungen. Die Hälfte vom Verdienst geht für die Bemalung drauf, sagt Bruder Nummer zwei. Und in der Rosengasse war es sehr eng, sagt Schwester Nummer zwei. In der Itterstraße hatten sie mit Hochwasser zu tun. Und in der Brückenstraße, nein in der Hauptstraße, da hat es richtig gebrannt, da mussten sie in die Brückenstraße umziehen. Das Haus ist längst abgerissen. Und vom Neffen heißt es, dass er einen Schuhtick hat, in Frankreich ausgelöst, muss er in jeden Schuhladen rein. Schuhe, die keiner hat, sein Motto, sind die besten. Besitzt echte Skaterschuhe, Größe vierundvierzig. Spielt Basketball im Verein. TV Eberbach. Will später einmal Friseur werden, ein Geschäft übernehmen. Kann im Grunde alles, ist nur eben sehr faul, sagt die Mutter. Und Bruder Nummer zwei war vor Jahren im Big-Brother-Container. Siebzehn Tage lang live im Fernsehen. Schwärmt vom Casting, dem Vorsprechen, der Tiefenuntersuchung, den vielen Tests und kennt seitdem seinen IQ. Hat Altenpfleger gelernt. Und die Mutter will im früheren Leben in Pinneberg bei einem Arzt im Haushalt ausgeholfen haben, fragt sich Bruder eins, wie das nur gehen soll, wenn sie im Osten gewesen war? Und ist erst vor Kurzem auf offener Straße umgekippt, Wasser oder Blut in der Lunge, und die rechte Herzseite funktioniert nicht mehr, schluckt ein Dutzend Tabletten über den Tag. Und was ihren Mann von damals anbelangt, zwei Tage tot in der Wohnung gelegen hat er, ohne dass es bemerkt worden ist. Mit dem ist sie nach Hamburg, sagt sie, von dort aus erst zu ihrem Vater, dem Polizisten. Die Neckarbrücke wurde in dem Jahr gebaut. Mehr sagt sie nicht. Und mit dem Mann, der mein und der Stralsunder Schwester Vater war, da gab es eine Fernscheidung, sagt Schwester Nummer eins. Dann war sie mit einem neuen Mann zusammen, dem Vater der Brüder und Schwestern aus dem Westen. Der trank und wechselte schließlich in ein Alkoholikerheim über. Es bestand daraufhin zu ihm kein Kontakt mehr. Rund um den Ort ist wieder Eberbach-Triathlon. Siebenhundert Meter Schwimmen, sechs Kilometer Joggen, einundzwanzig Kilometer Radfahren. Deswegen die vielen Radfahrer heute. Dreißig Jahre lebt die Mutter nunmehr allein. Schwester Nummer drei ist ihr die treuste, kommt oft vorbei. Was die Buletten angeht, Kochen hat sie im Arzthaushalt gelernt. Ohne Kochbuch, habe die Mutter behauptet. Und der Vater vom Neffen kocht hervorragend, sagt Schwester Nummer zwei. Türkische Eintöpfe. Lamashu, Hackfleisch, mehr als scharf, oberscharf, mit Paprika und Soße. Sie ist von allen Kochkünsten befreit. In der Hauptstraße arbeitet sie, bietet Tee und Geschenke feil. Der Eberbächler Dialekt, sagt Schwester Nummer drei, gilt in Mannheim als Hochdeutsch. Auf meine Frage bekomme ich zur Antwort, gegen dreiundzwanzig Uhr zur Welt gekommen zu sein. Die genaue Uhrzeit weiß die Mutter nicht. Bruder Nummer eins und Schwester Nummer zwei, gestern beide noch im Clinch, haben sich aus Anlass meines Besuchs vertragen. Der Streit wird nebensächlich. Brüder und Schwestern haben ihren großen Bruder am Tisch sitzen, der hat die Augen der Mutter, das sollte denn wohl so sein. Ansonsten Telefonnummern. Postleitzahlen. Ortsnamen. Adressen. Bruder Nummer vier will nichts mit der Familie zu schaffen haben. Lebt eigenbrötlerisch und anonym. Angaben zu insgesamt acht neuen Geschwistern, vier Brüder, vier Schwestern. Alle nach mir geboren. Alle im Westen auf die Welt gekommen, hier groß geworden. Von einer Mutter, die still auf ihrem Stuhl hockt und Stück für Stück vom Tisch abrückt. So unscheinbar sie als kleine, alte Person im Raum klemmt und völlig unbedarft erscheint, im fremden fernen Osten, in Rostock, in der Hafenstadt, auf leisen Sohlen, die Brut kann der Staat sich holen, ist sie weg über die Grenze, hat zwei Kinder von insgesamt zehn eigenen Kindern im Osten gelassen, mich und Schwester Nummer eins ausgesetzt, nicht als Pfand, sondern für alle Zeiten, sich von ihnen durch ihre Flucht befreit, ins Land des Vergessens begeben, mit dem Rücken zur sicheren Wand, immer an der Wand entlang, Auge, Ohr und Mund vor der Tatsache verschlossen, dass sie ihr Leben lang Mutter ist und eine Adoption wieder zu lösen. Und hat, als wären die zwei Kinder im Osten nicht vorhanden, von Neuem angefangen, Kinder zu gebären. Acht innerhalb von zwanzig Jahren. Und musste sich bis heute nicht für die Flucht vor den eigenen Kindern verantworten. Wird nicht zur Rechenschaft gezogen, vor Gericht gezerrt und für ihr Verbrechen bestraft. Ist, wie sie war, bleibt, was sie wurde, eine, die sich davonstiehlt, so auch auf engsten Küchenraum. Hockt in sich geknickt, untauglich für den anstehenden Erinnerungsprozess, die Reinigung. Begraben unter dem angelogenen Massiv aus Selbstbetrug. In Jahrzehnten der Verdrängung angehäuft. Hat mit den nachgeborenen acht Kindern die zwei totgesagten zugedeckt. Zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Dieser Wurm in Person. Nicht befähigt, Reue zu empfinden, gewillt, sprachlos zu verschwinden. Nicht eine Gegenwehr, wie hoch und hin und her es auch in der Küche geht. Nicht einmal ein Stopp und Halt, ich möchte dazu Folgendes sagen. Von den Ereignissen in ihrer Küche beherrscht, von ihrer Feigheit niedergerungen, von der Verdrängungsmaschinerie überrollt, und völlig desinteressiert an dem, was um sie passiert, dieser Art Heimsuchung nicht gewachsen. Zu allem immer nur gelogen und viel zu lange verschont geblieben, schlägt mit meinem Besuch das Schicksal zu und es gibt da für sie kein Geraderücken. Sie spielt keine Rolle. Sie existiert in der Küche nur am Rande. Die Brüder, Schwestern fragen mich aus, unterrichten, informieren mich, sprechen Vergangenheit an und berichten Teilstücke ihres gelebten Lebens, die Stücke unserer getrennten Wege sind, nichts weiter als die Gelegenheit, sich miteinander ins Verhältnis zu setzen, ein jeder für sich selbst neu zu finden.
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